HRA Themenjahr 2020/21Wissen schafft Karrieren? Soziale Herkunft und Chancengerechtigkeit in der WissenschaftRück- und Ausblick von Linda Jauch, Franziska Nitsche und Saskia Pfeiffer
18. Dezember 2020

Foto: unsplash
Mit dieser provokativen Frage und dem hoch aktuellen Thema sind wir im Februar in unser erstes Themenjahr gestartet. Ein Jahr lang, so der Plan, wollten wir als Hamburg Research Academy zusammen mit der Landeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten (LaKoG) in verschiedensten Workshops, Tagungen, Erfahrungssessions und diversen kleineren Veranstaltungsformaten über Chancengerechtigkeit in der Wissenschaft sprechen. Doch die Pandemie wirbelte auch unsere Pläne durcheinander und verstärkte die Probleme von Chancengerechtigkeit sogar noch, sodass wir uns für neue Formate und eine Verlängerung des Themenjahrs bis in das Sommersemester 2021 hinein entschieden haben.
„Unter den Talaren Akademikerkinder von 1000 Jahren“
Laut einer Untersuchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) beginnen immer noch von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 79 ein Hochschulstudium, während es nur etwa 27 aus Familien ohne Hochschulerfahrung sind. Und nur 15 davon erreichen einen Bachelorabschluss. Zwischen 2001 und 2010 kamen 38 % der in NRW neu berufenen Professorinnen und Professoren aus der höchsten sozialen Schicht, nur 10 % aus der niedrigsten.
Unter dem Motto „Unter den Talaren Akademikerkinder von 1000 Jahren“ haben wir das Themenjahr ausgerufen, um auf die bestehenden Unterschiede aufmerksam zu machen und gemeinsam Gründe und Lösungen zu diskutieren. Dafür konnten wir Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin und Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung der Freien und Hansestadt Hamburg, als Schirmherrin gewinnen und so die politische Dimension des Themas unterstreichen, denn „es ist im Interesse aller, dass jeder und jede sein bzw. ihr volles Potenzial entfaltet“, so Senatorin Fegebank in ihrem Grußwort.
Fulminanter Auftakt des Themenjahres mit HRA Salon
Den Auftakt für das Themenjahr bildete der HRA Salon „Macht & Eliten“ am 20. Februar 2020, der dritte Teil unserer Diskussionsreihe zum Thema Macht und Wissenschaft. Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Veranstaltung überstieg unsere Erwartungen. Die Kneipe war gut gefüllt und die Stimmung äußerst diskussionsfreudig. Unsere Gäste Dr. Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray (Sprach-, Islam-, Gender- und Rassismusforscherin, Rapperin, Journalistin, Buchautorin), Dr. Annette Julius (Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes), Dr. Ann-Kristin Kolwes (Projektkoordination "Erste Generation Promotion Mentoring+", Universität zu Köln) und Professor Michael Gille (Leiter des Promotionszentrums an der HAW Hamburg) waren ebenfalls von Anfang an mit viel Engagement dabei. Reyan Şahin beschrieb sehr anschaulich das Gefühl, „nicht dazugehören“ als normalen Dauerzustand und Ann-Kristin Kolwes hob die strukturellen Probleme des Systems Wissenschaft hervor: „Es wird einem eingetrichtert, man muss nur gut sein, dann bekommt man schon eine Professur, aber so ist das nicht. Denn es gibt Diskriminierung und Benachteiligung. Und solange sich das System nicht damit beschäftigt, solange wird sich auch nichts ändern.“ Die Notwendigkeit von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie sensibilisierten Auswahlkommissionen hob Anette Julius hervor.
Themenjahr und Pandemie
All diese wichtigen Punkte – die Erfahrungsberichte der Einzelnen, die systemischen Probleme im Wissenschaftsbetrieb und vor allem auch die Lösungsansätze – sollten im Laufe des Themenjahres weiter vertieft werden. Die Idee war, unterschiedliche Zielgruppen in den Blick zu nehmen, zu sensibilisieren, für das Thema zu gewinnen und vor allem einen Transfer aus den Forschungserkenntnissen in die praktische Umsetzung anzuregen. Warum diese ganzen Ideen und Vorhaben nach dem Auftakt im Konjunktiv? Die Pandemie kam und nichts ist mehr wie vorher. Unsere Formate waren als Präsenzveranstaltungen geplant – vom Empowerment-Workshop für Nachwuchwissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler über kollegiale Austauschformate für Betreuende bis hin zu zwei Tagungen im Herbst, die das Thema behandeln wollten. Also planten wir um, wurden erfinderisch und setzten das Mögliche in einem kleineren Rahmen um:
- Workshop „Herkunft macht Karriere(n) – Wissenschaftler*innen der ersten Generation“: Die äußerst nachgefragte Veranstaltung mit dem Fokus auf herkunftsbedingten Ressourcen, dem eigenen Kompetenzprofil, Selbst- und Fremdbildern sowie der Netzwerkbildung wurde erstmals in digitaler Form durchgeführt.
- Diversity-Tagung: Die Veranstaltung mit dem Schwerpunkt „Soziale Herkunft in Hochschule und Wissenschaft“ wurde in den virtuellen Raum verlegt.
- Interviewreihe: Gespräche mit Promovierenden und Promovierten der so genannten ersten Generation wurden fortgeführt und online veröffentlicht.
Besorgniserregende Erkenntnisse
Die globalen Entwicklungen verdeutlichten schnell, dass die Pandemie nicht nur ein Prüfstein für die Gesundheitssysteme werden würde, sondern auch soziale und gesellschaftliche Ungleichheiten noch verstärkte. Das Jahr der Pandemie hat die Notwendigkeit, über Chancengerechtigkeit in der Wissenschaft zu diskutieren, vergrößert. Schülerinnen und Schüler mussten und müssen vielerorts von zu Hause aus lernen, über die jeweilige digitale Ausstattung und Unterstützung entscheidet allein das Elternhaus. Plötzlich ist „der Unterschied nicht mehr, dass man weder Mitglied im Tennisclub war, noch (…) Skifahren (konnte)“, wie es in einem Erfahrungsbericht Prof. Dr. Segler-Meßner auf den Punkt bringt, sondern der fehlende Internetanschluss, der nicht-vorhandene Laptop oder die mangelnde Unterstützung aus dem Umfeld. Und natürlich stellt die (notwendige) Verringerung der Präsenzlehre bzw. das Social Distancing auch viele Studierende und Promovierende vor große Herausforderungen. Von den Belastungen, die eine häusliche Kinderbetreuung mit sich bringen, gar nicht gesprochen. Daher erscheinen uns die Fragen, die wir an dem wunderbaren Salonabend im Februar so enthusiastisch begonnen haben zu diskutieren, mittlerweile noch viel drängender. Wird die Pandemie die Möglichkeiten der akademischen Karriereleiter für Nicht-Akademikerkinder in noch weitere Ferne rücken? Am Ende dieses denkwürdigen Jahres 2020 stehen wir selbst enttäuscht und sehen betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Ausblick 2021: Jetzt erst recht! Verlängerung mit weiteren Highlights
Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, dass Themenjahr bis in das Sommersemester 2021 fortzuführen. Wir werden Workshops neu konzipieren und organisieren sowie ein fulminantes Symposium planen, bei dem wir über die Auswirkungen von Corona auf die Chancengerechtigkeit in der Wissenschaft sprechen. Was können wir als Hochschuleinrichtungen, was können Professorinnen und Professoren, was kann jede und jeder Einzelne im Wissenschaftsbetrieb tun, damit es keine „Generation Corona“ gibt? Wie erreichen wir, dass in einigen Jahren auch aus Familien ohne Hochschulerfahrung 79 von 100 Kindern ein Hochschulstudium beginnen und ein großer Anteil am Ende eine Professur erlangt?
Auf dem Laufenden bleiben
Sie möchten über Angebote der HRA auf dem Laufenden bleiben? Folgen Sie uns auf Twitter oder Facebook und melden Sie sich für unseren Newsletter an!