HRA Salon am 20. Februar 2020Durchlässigkeit, Habitus, Empowerment – Macht und Eliten in der Wissenschaft
1. März 2020
Foto: HRA/Peter Oldorf
Viele Studien weisen schon lange darauf hin: Die Chancen für eine Karriere in der Wissenschaft hängen stark vom Bildungsstand und Einkommen der Eltern ab. Warum ist es so viel schwerer, sich in der Wissenschaft zu etablieren, wenn das Elternhaus nicht akademisch geprägt ist? Was können (und sollten) Hochschulen, Fördermittelgeber und Gesellschaft tun, um dieser Ungleichheit zu begegnen? Braucht das Wissenschaftssystem neue Impulse in Sachen Diversität oder setzen sich letztlich doch immer die etablierten Eliten durch?
Über diese wichtigen Fragen diskutierten bei einem sehr gut besuchten dritten Salonabend der Hamburg Research Academy am 20. Februar Dr. Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray (Sprach-, Islam-, Gender- und Rassismusforscherin, Rapperin, Journalistin, Buchautorin), Dr. Annette Julius (Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes), Ann-Kristin Kolwes (Projektkoordination "Erste Generation Promotion Mentoring+", Universität zu Köln) und Professor Michael Gille (Leiter des Promotionszentrums an der HAW Hamburg). In der Veranstaltungsreihe, die sich mit Macht und Wissenschaft beschäftigt, stand diesmal das Thema „Eliten“ im Fokus.
Auftakt für das Themenjahr 2020: Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit
Zugleich war der Abend der Auftakt für das Themenjahr 2020 „Wissen schafft Karrieren? Soziale Herkunft und Chancengerechtigkeit in der Wissenschaft“, welches die Hamburg Research Academy gemeinsam mit der Landeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten (LakoG) organisiert. In verschieden Veranstaltungen wird das gesamte Jahr über Herkunft und Aufstieg im Wissenschaftsbetrieb diskutiert und Unterstützung und Vorschläge zum Andersmachen geboten.
Auswahlverfahren und soziale Herkunft
Wie können Stiftungen und weitere Projekte, die Bildung gesellschaftlich breiter aufstellen möchten, förderfähige junge Menschen identifizieren? Hat Reyan Şahin recht, die in ihrem ersten Statement darauf hinweist, dass in manchen Förderverfahren gelte: je mehr sich jemand stigmatisiert, umso höher die Chancen der Unterstützung? Der Abend beginnt mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff „bildungsfern“, der die Diskriminierung vieler Studierender sowie Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern der sogenannten ersten Generation auch noch sprachlich manifestiere. Ann-Kristin Kolwes und ihr Projekt fragen daher lieber nach dem Hochschulabschluss der Eltern. Die Studienstiftung ist besonders an persönlichem Engagement interessiert, welches allerdings ebenfalls von sozialer Herkunft geprägt sein kann. Um dennoch eine möglichst faire Förderung zu gewährleisten, fragt die Stiftung daher nach dem höchsten Bildungsabschluss der Eltern. Die Studienstiftung fördere ca. 30 % Erstakademiker und über 20 % Menschen mit Migrationshintergrund. Eine große Hürde scheint aber v.a. das oft fehlende Selbstvertrauen für eine Bewerbung zu sein. Anette Julius weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren hin, aber auch auf die eigene Statistik, welche Reyan Şahin ein wenig Recht gibt: Mit Migrationshintergrund habe man eine 10 % höhere Wahrscheinlichkeit in die Studienstiftung aufgenommen werden.
Soziale Hürden an Fachhochschulen kleiner
Dass an einer Fachhochschule die sozialen Hürden geringer sind, davon zeigt sich Michael Gille überzeugt. Sprache und Umgang untereinander als auch mit den Professorinnen und Professoren seien weniger von Habitus geprägt. Dennoch erkenne man in Seminaren an Sprache und Studiendauer oft die soziale Herkunft der Studierenden. Durch die Praxisnähe fühlen sich dort gerade Studierende und Promovierende der ersten Generation angekommener, so Ann-Kristin Kolwes, während Michael Gille es auf den Punkt bringt: an der Fachhochschule sei die Nicht-Elite unter sich.
"Nicht dazugehören“ als Dauerzustand
Das Problem des Habitus diskutieren die Gäste wiederholt auch mit Blick auf die eigene Bildungskarriere. Das selbst erlebte Gefühl, niemanden fragen zu können und die Regeln des akademischen Systems nicht zu verstehen, geben Ann-Kristin Kolwes die Motivation für ihre Arbeit beim Verein Erste Generation Promotion. Reyan Şahin beschreibt das Gefühl, „nicht dazugehören“ als normalen Dauerzustand. In ihren Augen ist das Hochschulsystem ein hochgradig patriarchales, elitäres, sexistisches und strukturell rassistisches System. „Frau, Migrationshintergrund, Künstleridentität Lady Bitch Ray. In dem hoch elitären System wird der Vertrag einfach nicht verlängert, wenn jemand rausgemobbt werden soll, weil er*sie nicht dazu gehört“, so Reyan Şahin.
Strukturelle Probleme im Wissenschaftssystem
Şahin sieht Mittelgeber wie Stiftungen nur als Teil eines Problems. Die strukturellen Probleme fingen bereits im Studium an einer Universität an. Vor allem bemängelt sie das Fehlen von Transparenz und Kontrollinstanzen, um auf Fehlverhalten und Diskriminierungserfahrungen effektiv hinweisen zu können. Viele gute Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler sortieren sich daher selber aus, ist Ann-Kristin Kolwes überzeugt. „Es wird einem eingetrichtert, man muss nur gut sein, dann bekommt man schon eine Professur, aber so ist das nicht. Denn es gibt Diskriminierung und Benachteiligung. Und solange sich das System nicht damit beschäftigt, solange wird sich auch nichts ändern.“ Letztlich ist auch hier wieder ein drängendes Problem die Auswahl bzw. Berufung von Professorinnen und Professoren: Diejenigen, die schon länger im System sind, wählen den Nachwuchs aus und sind natürlich nicht frei von Vorurteilen oder geschult in „Unconscious Bias“ (Erklärvideo der Royal Society zum Thema "Unconscious Bias").
Dieses systemische Problem trifft jedoch bei weitem nicht nur Erstakademikerinnen und Erstakademiker, wie Annette Julius ergänzt: „Wir haben in manchen Fächern 120 Habilitationen auf eine Professur. In einigen Bereichen gibt es solche beinharten Konkurrenzsituationen, dass Leute ewig im System bleiben, ohne dass es eine Abzweigung gibt. Man muss mehr sehen, dass man auch Glück braucht in diesem System. Wir haben Strukturen, die junge Leute viel zu lange im Wissenschaftssystem lassen, ohne dass es eine Aussicht auf Karrierewege gibt.“
Unconscious Bias Schulungen für Auswahlgremien
Mit viel Engagement bringt sich auch das Publikum in die Diskussion ein, wobei gerade die Frage von Auswahlgremien die Gemüter erhitzt. So weist Professorin Sybille Bauriedl von der Europa-Universität Flensburg darauf hin, dass eine Professur nicht durch Glück, sondern über die bestehenden Machtstrukturen erreicht würde. Umso wichtiger sei es für Professorinnen und Professoren, sich zu solidarisieren und in Auswahlgremien aktiv zu werden. Anette Julius ergänzt eine interessante Beobachtung, die sie aus der Analyse der eigenen Auswahlgremien zieht: Je mehr Frauen in den Auswahlgremien waren, desto (statistisch) schlechter schnitten weibliche Bewerberinnen ab. Die Auswalkriterien müssten dringend überdacht werden. Oder wie ein anderer Salonbesucher, selbst Mitglied in diversen Auswahlkommissionen der Studienstiftung, engagiert fordert: Alle Mitglieder von Auswahlkommissionen bräuchten regelhaft „einen solchen Diskussionsabend wie heute Abend, oder eben eine Schulung. Sonst reproduziert sich das System selber.“ Die Studienstiftung kann bereits 30 % geschulte Auswahlgremiumsmitglieder vorweisen – im deutschen Vergleich ein herausragender Wert. Alle Gäste sind sich aber über die Dringlichkeit eines Ausbaus derartiger Trainings einig.
Gleichzeitig muss dringend die Durchlässigkeit im deutschen Bildungssystem als Ganzes erhöht werden. Denn bis zu einer Auswahlkommission ist es bereits ein weiter Weg. Und dabei ist jede Einzelne und jeder Einzelne gefragt, wie Ann-Kristin Kolwes in den Schlussworten deutlich macht: „Wir können Sachen nur verändern, wenn wir sie ansprechen, wenn wir empowern. Wenn ich es nicht mache, die Veränderung, dann macht es keiner.“
Gut zu wissen
- Weitere Informationen zum Themenjahr 2020
- Weitere Informationen zum Projekt „Erste Generation Promotion Mentoring+“
- Weitere Informationen zum Auswahlverfahren der Studienstiftung
- Rezension von Reyhan Şahins Buch „Yalla, Feminismus“, welches auch die „Fuckademia“ thematisiert
Sollten Sie weitere Informationen zum Thema benötigen, Ideen für weitere Veranstaltungen, v.a. auch im Rahmen des Themenjahrs haben, melden Sie sich gerne!
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