HRA Salon – Power & Academic SystemDie großen Hebel in Bewegung setzen: Machtstrukturen in der Wissenschaft nachhaltig verbessern
29. November 2021

Foto: HRA
Der fünfte und letzte Teil der HRA Salonreihe zum Thema Macht und Wissenschaft nahm das große Ganze in den Blick: das deutsche Wissenschaftssystem. Die Hamburg Research Academy suchte am 28. September mit ihren Gästen nach möglichen systemischen Ursachen für Machtasymmetrien, die in den vorangehenden vier Salons bereits für unterschiedliche Bereiche diskutiert wurden. Welche hochschulpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre haben sich positiv oder negativ auf Abhängigkeitsverhältnisse ausgewirkt? Und welche Reformen benötigt das System jetzt – gerade mit Blick auf eine neue Bundesregierung, um die Position des wissenschaftlichen Nachwuchses nachhaltig zu verbessern und Deutschland letztlich zu einem attraktiveren Wissenschaftsstandort zu machen?
Neben den vier hochkarätigen Gästen war bei der Veranstaltung ein rund 200-köpfiges Publikum anwesend. Darunter befanden sich viele Expertinnen und Experten von Graduierteneinrichtungen aus ganz Deutschland, da der HRA Salon gleichzeitig Auftakt der Jahrestagung des Universitätsverbands zur Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland (UniWiND) war.
„Was bisher geschah…“ Positive Entwicklungen im deutschen Wissenschaftssystem
Von Stillstand im deutschen Wissenschaftssystem kann in den letzten zehn Jahren keine Rede sein: Die Internationalisierung an deutschen Universitäten hat einen großen Sprung nach vorne gemacht. So hat sich die Zahl internationaler Studierender seit 2010 fast verdoppelt und auch die Zahl internationaler Beschäftigter ist angestiegen. Der Wettbewerb im Rahmen der Exzellenzstrategie führte zu Profilschärfungen und neuen Strategien der einzelnen Hochschulen. Darüber hinaus haben sich die Rahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs durch die Einrichtung von strukturierten Promotionsprogrammen und Graduierteneinrichtungen vielerorts verbessert. Die steigende Etablierung von Führungstrainings für Betreuende sowie von Betreuungsvereinbarungen trugen ebenfalls dazu bei. Und zu guter Letzt ist das Bewusstsein für ungleiche Machtstrukturen innerhalb des Wissenschaftssystems gewachsen. Aber natürlich reicht das Bewusstsein für ein Problem allein nicht aus, um es zu lösen.
Gäste
- Prof. Dr. David Bogle
Pro-Vice-Provost of University College London Doctoral School, Chair of League of European Research Universities Doctoral Studies Policy Group - Dr. Henrike Hartmann
Stellvertretende Generalsekretärin und Mitglied der Geschäftsleitung der VolkswagenStiftung - Prof. Dr. Reinhard Jahn
Emeritus-Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, 2019-2020 Präsident der Georg-August-Universität Göttingen - Antonia Weberling, M.S.c.
Promovierende im 4. Jahr an der University of Cambridge, Initiatorin der Kampagne RescueHorizonEurope - Ralf Krauter
Wissenschaftsjournalist, Moderator
Deutsche Besonderheiten: späte Eigenständigkeit und doppelte Abhängigkeiten
Die eingeladenen Expertinnen und Experten aus Deutschland und Großbritannien waren sich sowohl über die Vorteile des deutschen Systems im internationalen Vergleich (Finanzierungslage und Forschungstradition) einig als auch über die größten deutschen Probleme: die lange Promotions- und Postdoc-Phasen, die damit verbundene späte Eigenständigkeit und die daraus resultierenden Abhängigkeitsverhältnisse. Welche Folgen diese Aussichten auf individuelle Karriereverläufe haben können, schilderte Antonia Weberling. Nach dem Studium in Deutschland entschied sie sich bewusst für die Promotion in Großbritannien, wo diese Phase auf vier Jahre begrenzt und eine durchgehende Finanzierung gesichert ist. Die unsicheren Karriereoptionen in Deutschland wirken sich im Kleinen auf einzelne berufliche Entscheidungen und im Großen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftsstandorts Deutschland aus. Darüber hinaus ist es gerade die langjährige Abhängigkeit zu Vorgesetzten, Betreuenden und Begutachtenden – als deutsche Besonderheit sind diese Rollen oftmals in einer Person vereint –, die zu einem starken Machtgefälle führen kann und Machtmissbrauch begünstigt.
Tenure-Track: Ist ein neuer Karriereweg die Lösung?
Klarere Karrierewege und eine frühere Eigenständigkeit auf dem Weg zur Professur waren die Ideen hinter der der Einführung von W1-/Juniorprofessuren, Nachwuchsgruppenleitungen und vor allem Tenure-Track-Professuren. Die Tenure-Track-Professur wurde 2017 gemeinsam von Bund und Ländern eingeführt: Eine Milliarde Euro wurde für 1000 zusätzliche Tenure-Track-Professuren bis 2035 bereitgestellt. Anders als bei der befristeten Juniorprofessur, ist nach einer erfolgreichen Bewährungsphase der Übergang zu einer dauerhaften Professur an der gleichen Universität vorgesehen. Die Förderung sollte die Anzahl der Professuren insgesamt steigern. Durch ausgezeichnete Bewerbungen aus dem In- und Ausland hätten die neuen Stellen dem deutschen Wissenschaftssystem kurzfristig einen spürbaren Aufwind gegeben, so Prof. Dr. Reinhard Jahn, der selbst Teil des Auswahlkomitees der Tenure-Track-Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) war. Auch wenn die neuen Stelleninhaberinnen und -inhaber von den transparenteren Karrierewegen profitieren, wurde leider das Ziel der zusätzlichen Professuren verfehlt: Da der Bund nur die ersten sechs Jahre fördert und die Universitäten die anschließenden Dauerprofessuren selbst finanzieren müssen, wurden überwiegend vorgezogene Neuberufungen vollzogen und damit Tenure-Track-Stellen ausgeschrieben, die ohnehin demnächst, auf Grund der Emeritierung der Stelleninhabenden, freigeworden wären. Aus seiner internationalen Perspektive unterstrich Prof. Dr. David Bogle die grundsätzlich gute Idee der neuen, viel transparenteren und somit attraktiveren Karrierewege. Nun müsse aber nach Wegen gesucht werden, um die Tenure-Track-Stellen langfristig im System zu etablieren.
Tiefliegendes Problem: Zwei gegenläufige Karrieresysteme
Das WissZeitVG steht im Rahmen der #ichbinhanna-Debatte aktuell stark im Scheinwerferlicht. Im HRA Salon wurden die Problematiken zwar angesprochen, doch das Gesetz an sich eher als Symptom und nicht als Ursache bewertet. Dr. Henrike Hartmann und Prof. Dr. Reinhard Jahn waren sich einig, dass das zugrundeliegende Problem vielmehr die parallele Förderung zweier diametraler Systeme sei: Zeitgleich zur Einführung neuer Karrierewege (W1-, bzw. Tenure-Track-Professur mit früherer Eigenständigkeit) werden im Rahmen der Exzellenzstrategie in erster Linie Postdoc-Stellen gefördert, wodurch die herkömmlichen Berufungsverfahren und die damit verbundenen längeren Machtungleichheiten gefestigt werden. Hier liegt, so waren sich die Gäste einig, entscheidender Reformbedarf für die nächste Ausschreibungsrunde der Exzellenzstrategie. Diese Neuausrichtung des Wissenschaftssystems sollte darüber hinaus durch eine wesentliche Maßnahme ergänzt werden: Verpflichtende und neutrale Karriereberatungen, die ehrlich und rechtzeitig alle Optionen – innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft – aufzeigen.
Ideen aus der Diskussion...
...für notwendige Maßnahmen in den nächsten 5 Jahren:
- Frühere Eigenständigkeit von Forschenden ermöglichen
- Reformierung der Exzellenzstrategie zugunsten besserer Wissenschaft, klarer Karriereperspektiven und Forschung außerhalb von Clustern
- Verpflichtende (externe) Karriereberatung nach der Promotionsphase einführen, um über außeruniversitäre Karrieremöglichkeiten zu informieren
- Universitäten mehr Unabhängigkeit und Flexibilität ermöglichen
- Etablierung einer besseren Führungskultur
- Rahmenbedingungen der Promotion verbessern: Finanzierung für gesamte Promotionsdauer, eigenständige Verwendung der Mittel, Abschaffung der 60%-Promotionsstellen
- Promotionen verpflichtend an Graduiertenschulen angliedern
- Wissenschaftssystem vom Öffentlichen Dienst lösen, um mehr Flexibilität und Wettbewerb zu ermöglichen
Was jetzt? Großer Umsturz oder kleine Reformen?
In den ersten vier Salonabenden zu den Themen Betreuung, Forschungsförderung, Diversität und internationale Mobilität diskutierten die unterschiedlichen Podiumsgästen über die sich in den Bereichen zeigenden Machtasymmetrien und die hier notwendigen Gegenmaßnahmen. Bei diesem letzten Salon stand vor allem die Suche nach systemischen Ursachen und den passenden großen Hebeln im Fokus, um die oftmals spezifisch deutschen Machtasymmetrien grundlegend zu lösen. Die Hamburg Research Academy ist sich sicher, dass beides unbedingt gleichzeitig erfolgen muss: konkrete kleinere Maßnahmen und der Anstoß von großen, systemischen Änderungen. So können zum Beispiel dringend notwendige Verbesserungen im Bereich Betreuung (z. B. flächendeckende Einführung von verbindlichen Betreuungsvereinbarungen, Trennung von Betreuung und Begutachtung. Mehr dazu im Artikel zum HRA Salon – Macht & Betreuung) nicht warten, wie mehrere Stimmen aus dem Publikum betonten. Für die zeitnahe Umsetzung großer und kleinerer Änderungen sind Politik, Hochschulen und Fördermittelgeber gemeinsam in der Pflicht.
Viele angesprochene Bereiche durchzieht das Problem der fehlenden Transparenz: Das betrifft das WissZeitVG genauso wie Probleme in der Karriereberatung. Daher ist der Schlussappell von Prof. Dr. David Bogle auch ein passender Abschluss zur Veranstaltungsreihe: „We need more honesty in the System!“
Vision 2030 – Wie wird das deutsche Wissenschaftssystem aussehen?
- Dr. Henrike Hartmann:
Die Universitäten sind unabhängig und international wettbewerbsfähig. Sie haben ein Karrieresystem, das die Wissenschaft besser unterstützt. Der Anteil von Frauen und Männern auf Professuren ist gleich. - Prof. Dr. David Bogle:
Das System ist viel flexibler und durchlässiger. Die Universitäten reichen stärker in die Gesellschaft hinein. - Antonia Weberling, M.S.c.:
Deutschland ist ein Magnet für ausgezeichnete Forschende. Es gibt mehr Flexibilität für individuelle Karrierewege und mehr Mut für ausgefallenere Forschungsvorhaben. - Prof. Dr. Reinhard Jahn:
Das Wissenschaftssystem kümmert sich besser um junge Menschen. Ihre Ideen werden gefördert, sie werden respektiert und in ihrer Eigenständigkeit unterstützt.
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